Mein Zivildienst begann offiziell am Montag, dem 2. Februar und dauerte bis zum 31. Jänner des nächsten Jahres.
Ich konnte vom Haus meiner Familie zu Fuß hingehen, das dauerte zirka 10 bis 15 Minuten, je nachdem, wie eilig man es hatte. Ich bin vorher noch nie in dem Altenheim gewesen. Es war früher ein Krankenhaus, dessen Bau ein reicher Kaufmann gesponsert hatte. Es wurde vor einigen Jahren sogar großzügig umgebaut und modernisiert.
Vorher mussten bis zu sechs Leute in einem Zimmer wohnen. Nach dem Umbau sind maximal zwei Oldies in einem Zimmer untergebracht. Hat man genug Kohle, dann kann man natürlich auch ein Einzelzimmer bewohnen.
Das Haus hat insgesamt zwei Stockwerke und eine „Keller-Ebene“. Es ist so in einen Hügel hineingebaut, dass man von der einen Seite in den Keller hineingehen kann und auf der anderen Seite einen Stock höher ins eigentliche Parterre. Der Grundriss hat eine T-Form, von außen sieht das Haus recht freundlich aus.
Ich war an meinem ersten Tag einigermaßen ausgeschlafen und hatte mir vorgenommen, ohne Vorurteile meinen Dienst anzufangen. Vielleicht wird alles ja gar nicht so schlimm werden, dachte ich mir. Ein Freund, der bereits seinen Zivildienst abgeleistet hatte, gab mir am Vortag noch den Tipp, die Fingernägel besonders kurz zu schneiden. Ich wusste zwar, dass er mich aufziehen wollte, aber ich habe es tatsächlich gemacht.
Es war ein strahlender Sonnentag, dieser mein erster Zivildiensttag, viel zu warm für einen Februar. Der erste Tag fing kulanter Weise auch erst um 10:00 Uhr an. Ein paar Minuten vor 10:00 war ich beim Altenheim. Ich suchte den Haupteingang, den man von der Straßenseite aus nicht sehen kann. Ich ging also um das Haus herum, musterte es, fand den Eingang. Der Eingang ist eine automatische Schiebetür.
Ich ging hinein und setzte ein freundliches Gesicht auf. Tausende neue Eindrücke prasselten auf mich ein.
Zuerst war da dieser furchtbare Geruch. Es roch wie in einem Krankenhaus nach Desinfektionsmitteln, aber da war noch mehr in der Luft. Ich konnte die Gerüche noch nicht zuordnen.
Ein alter, dickerer, größerer Mann mit hochrotem Gesicht saß an einem Tisch und hatte eine Zigarre in der Hand. Eine Schwester lief an ihm vorbei, er sagte zu ihr: „Bussi, Bussi.“ Sie war in Eile, antwortete „Jaja“ im Vorbeigehen. Irgendein Alarmsignal, so ein Läuten, war zu hören.
Ein Mann, der keine Beine mehr hatte und in einem Rollstuhl saß, ballte eine Faust, plärrte „Maaaah“ zu einer Frau, die ziellos herumlief, weil diese bei ihm angestoßen war.
Eine andere Frau im Rollstuhl, die sehr jung aussah, viel zu jung für das Altenheim, machte komische, hektische Bewegungen und murmelte irgendetwas Unverständliches. Später erfuhr ich, dass sie Spastikerin ist. Sie wollte mich freundlich begrüßen.
Ich war also in der Hölle gelandet. Ich stand im Eingang meiner persönlichen Hölle, lächelte und wartete nur mehr auf den Teufel. Wahrscheinlich werde ich jetzt auch gleich in Ketten gelegt, an die Wand gehängt und müsste dort ein Jahr mit diesen Wahnsinnigen verbringen.
Ich stand noch immer beim Eingang und war weiterhin fest entschlossen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es kam dann eine Frau vorbei, die sich als Sekretärin vorstellte, sie bat mich, mit ins Büro zu kommen, das war gleich um die Ecke.
Wir gingen ins Büro. Neugierig begutachtete sie mich. Ich musste dann irgendwelche Formulare ausfüllen. Ein, zwei Minuten später trudelte noch ein weiterer, junger Mann ein. Es war mein neuer Kollege Robert, der ebenfalls ein Jahr Zivildienst ableisten musste. Er war zwei Jahre jünger als ich.
Vom Büro führte eine Tür direkt zum Besprechungszimmer, wir sollten dort auf die Chefin warten. Ich wechselte mit Robert ein paar belanglose Worte. Er war in Ordnung, das merkte ich gleich. Er hatte Installateur gelernt.
Die Tür ging auf, und die Chefin kam herein, Schwester Monika. Sie musterte uns genau von oben bis unten und bat uns dann, uns zu setzen. Sie möchte ein bisschen über das Altenheim und die Ziele sprechen, sagte sie uns. Aber bevor sie anfing, fragte sie uns, warum wir uns denn für den Zivildienst entschieden hätten.
Voller Stolz erklärte ich, dass ich – wenn ich schon ein Jahr für den Staat dienen müsste – etwas Sinnvolles tun wollte. Ich sei ein friedliebender Mensch, und für mich käme das Bundesheer deshalb überhaupt nicht in Frage. Ich wäre gegen jede Art von Krieg, sähe aber schon ein, dass man das Bundesheer brauche. Aber ohne mich, schloss ich stolz meine feurige Liebeserklärung an den Zivildienst ab.
Ich glaube, es war ungefähr das, was Schwester Monika hören wollte. Robert sagte darauf entschlossen und knapp: „Ich mache Zivildienst, weil ich mir die Haare nicht abschneiden lassen will.“ Er hatte wirklich eine lange Mähne. Ich beneidete ihn um seine Ehrlichkeit.
Schwester Monika nahm das zur Kenntnis und erzählte uns ein paar Details über das Altenheim. Wir sollten statt Altenheim „Pflegezentrum“ sagen, das würde viel besser klingen. Außerdem wären im Pflegezentrum keine „Patienten“, sondern „Bewohner“. Das Haus war fast voll belegt, es gab rund 80 Betten. Das Durchschnittsalter der Bewohner betrug 82,4 Jahre. Es wird von der öffentlichen Hand betrieben.
Insgesamt arbeiteten rund 50 Mitarbeiter in verschiedenen Bereichen im Heim. Darunter waren fünf diplomierte Kräfte angestellt, vier Frauen, ein Mann. Weiters gab es Pflegerinnen und Pfleger, Pflegehelfer, Küchenpersonal usw.
Sie erklärte uns den Dienstplan, der für uns Zivildiener aus drei verschiedenen Dienstarten bestand. Einen „Vormittagsdienst“, der um 7 Uhr in der Früh los ging, einen „Nachmittagsdienst“, der um 11 Uhr startete und einen Wochenenddienst, bei dem man ein paar Stunden am Vormittag und ein paar Stunden am Nachmittag dienen musste.
Nach einem Monat müssten wir zu einer Zivildiener-Ausbildung, die drei Wochen dauern würde, sagte sie zu uns. Am ersten Tag würde unser Dienst noch bis drei Uhr am Nachmittag dauern. Und die erste Woche hätten wir gemeinsam einen Vormittags-Dienst und würden eingeschult werden. Anschließend würden wir uns bei den Diensten abwechseln.
Ins Besprechungszimmer kam Daniel. Er war ebenfalls Zivildiener, der gerade noch drei Tage zu dienen hatte, wie er mit einem sehr breiten Grinsen feststellte. Ich kannte ihn flüchtig aus der Schule, er war ein bisschen älter als ich und studierte an der Montan-Universität. Er bekam von Schwester Monika die Aufgabe, uns im Altenheim ein bisschen herumzuführen. Wir sollten ihm bei seiner Arbeit zur Hand gehen.
Wir gingen zuerst in den Keller und suchten uns einen weißen Arbeitsmantel aus. Es war schon Mittagszeit. Zu Mittag müssten wir die Leute vom Parterre in den ersten Stock in den Speisesaal bringen, erklärte uns Daniel. Im Parterre sind die Leute untergebracht, die schon ziemlich am Sand sind. Im ersten Stock sind die Bewohner fast alle noch halbwegs selbstständig. Und im zweiten Stock wohnen Leute, denen es überhaupt noch ganz gut geht.
Ich schob eine Frau im Rollstuhl vom Parterre zum Lift. Und noch einen Mann. Ich merkte mir natürlich keinen einzigen Namen. Im ersten Stock war neben dem Speisesaal eine Teeküche untergebracht. Und die Teeküche wurde von einem Feuer speienden Hausdrachen regiert. Wir sollten die Frau in der Teeküche keinesfalls reizen, riet uns Daniel. Sie könne nämlich sehr schnell sehr aufbrausend werden.
Am Nachmittag sollten wir die Zimmer mit Material „aufstocken“. Wir gingen in den Keller, holten einen großen Schiebewagen, befüllten ihn mit Bettwäsche, Seife, Desinfektionsmitteln und Windeln.
Daniel erklärte uns, wo was hingehörte. Er stellte uns auch allen Bewohnern vor. Einige konnten noch normal reden und denken, einige schrien unverständliches Zeug, lachten, kreischten, einige saßen überhaupt nur stumm herum. Einige gingen ziellos durchs Heim. Einige lagen überhaupt nur mehr in ihren Betten, ohne sich bewegen zu können. Einige lagen im Sterben.
Wir hatten am ersten Tag keine schwere Arbeit zu tun, die Zeit verging relativ schnell. Ich hatte auch gar keine Zeit, über die neuen Eindrücke nachzudenken. Aber das konnte ich ja daheim den Rest des Tages tun. Ich war daheim sehr schweigsam. Das Jahr würde kein Zuckerschlecken werden, soviel war mir klar.
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