14. Austritt

Der Austritt | Foto: © Pictures news - Fotolia.com
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Sonntag, 9 Uhr. Die letzten braven und treuen Kirchengeher hatten sich im Gotteshaus versammelt. Ich saß auch unter ihnen. Das ist an und für sich sehr erstaunlich. Aber es würde wahrscheinlich das letzte Mal sein, dass ich den großen Bau freiwillig betrete, dachte ich mir. Ich wollte mich vor Ort entscheiden, ob ich aus der Kirche austreten sollte. Vieles sprach dafür. Und schließlich kostet es Geld, bei einer Kirche zu sein.

Der Pfarrer tat, wie er schon immer getan hat. Die Kirchengeher taten auch, was sie schon immer getan hatten. Ich wurde etwas unsicher.

Als der Pfarrer den Messwein trank, geschah das Unfassbare. Plötzlich stürmte ein eisiger Wind durch die alten Gemäuer, alle Türen wurden aufgerissen, alle Lichter verblassten. Es wurde finster. Die Kirchengeher erstarrten. Außer einem dumpfen, bedrohlichen Basston, war nichts zu hören. Plötzlich fiel ein gleißendes blau-gelbes Licht von oben auf den Altar. Der Basston entwickelte sich nun zu einem Grollen. Entfernt wurden alle Fugen von Bach gleichzeitig gespielt.

Am Altar erschien mitten im Licht eine große Gestalt, ein Engel, wahrscheinlich sogar ein Erzengel. Er erhob seine Hände und machte ein grimmiges Gesicht. Nach einem immensen Trommelwirbel faltete der Gesandte seine Hände, und alle Kirchengeher zerfielen zu Staub. Nur der Pfarrer und ich wurden verschont. Der Engel sprach mit mächtiger Stimme: „Höret meine Worte!“ Weiteres war dann nicht mehr zu verstehen.

Nach diesen schockartigen Erlebnissen traten der Pfarrer und ich aus der Kirche aus.

***

Zumindest im Traum war es so. Ich telefonierte mit Ulrike und erzählte ihr den Traum. Sie wusste auch nicht, was er bedeutet. Aber sie versprach mir, ein Buch mit Traumsymbolen zu besorgen, das könne weiterhelfen. Dann erzählte sie mir von so genannten „Klarträumen“, in der Fachsprache sagt man dazu „luzide Träume“. Das sind kurz gesagt Träume, in denen man im Traum sozusagen aufwacht und die man mit seinem Traum-Bewusstsein aktiv steuern kann, man kann also selbst Regie führen.

Das hörte sich für mich faszinierend an, deshalb beschloss ich, selbst zu versuchen, auch solche Klar­träume zu bekommen. Das ist gar nicht so einfach. Man muss im Wachzustand so genannte „Reality Checks“ machen. Also Prüfungen, bei denen man feststellt, ob man wach ist oder ob man träumt. Natürlich weiß man, dass man jetzt gerade wach ist. Aber man muss diese Checks für das Traum-Bewusstsein trainieren, damit man diese Checks auch im Traum macht.

Man überprüft beispielsweise im Wachzustand die Anzahl der Finger an einer Hand. 1, 2, 3, 4, 5. Zählt man z.B. sechs Finger, dann ist man sicher, in einem Traum zu sein, man kann dann im Traum aufwachen. Man kann z.B. auch auf die Uhr sehen, dann sieht man kurz weg und wieder auf die Uhr. Steht dort die gleiche Zeit, ist man wach. Hat sich die Zeit sehr geändert, könnte man in einem Traum sein.

Träume haben oft eine haarsträubende Handlung, so dass man ohne weiteres darauf kommen könnte, dass man gerade in einem Traum ist, wenn man die Szenerie nur hinterfragen würde. Die Gemeinheit bei der Sache ist aber, dass man selbst im Traum oft eine noch haarsträubendere Erklärung hat, warum etwas „normal“ ist.

Auch das mit dem „Sechs Finger Zählen“ funktioniert nicht immer. Wenn man zum Beispiel im Traum den Onkel Erwin trifft, ihm die Hand gibt und dann feststellt, dass er sechs Finger hat, wundert man sich schon darüber. Aber es fällt einem sehr schnell ein, dass der Onkel ja im Krieg zwei Finger verloren hat. Und vor kurzem hatte er eine Operation, da haben sie ihm drei Finger gleich dazu angenäht. Ist auch viel praktischer, wenn man sechs Finger hat. Und schon schläft man im Traum weiter und kann ihn nicht aktiv steuern.

Es gibt viele verschiedene Arten von „Reality Checks“, aber das können Sie selbst herausfinden. Im Internet findet man zahlreiche Informationen dazu. Man braucht mehrere Tage bis Wochen und viel Geduld, bis es gelingt, einen Klartraum zu bekommen. Beim Einschlafen gibt es dann noch den Trick, dass man daran denken soll, einen Klartraum zu haben.

Nach zwei Wochen machte ich zum ersten Mal im Traum einen „Reality Check“. Finger zählen: 1, 2, 3, 4, 5, 6. Was? Sechs? 1, 2, 3, 4, 5, 6. Gibt’s ja nicht, bin ich denn schon ganz blöd? Hab ich mich verzählt? 1, 2, 3, 4, 5, 6. Ah! – Endlich begriff ich es. Hurra, ich hatte meinen ersten Klartraum! Hurra! Ich freute mich im Traum derart darüber, dass ich sofort aufwachte. Mist!

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