13. Der Tod

Der Tod | Foto: © BONIN Foto - Fotolia.com
Der Tod | Foto: © BONIN Foto - Fotolia.com

Es gibt zwar Leute, die quasi zum Pflegeurlaub nur für ein paar Tage im Altenheim sind, das sind aber auch die einzigen, die das Heim wieder lebend verlassen. Als Zivildiener lernt man sehr schnell eine kalte, herzlose Sprache. Wenn jemand starb, war uns das am Anfang relativ egal.

Es war uns nicht ganz egal, weil wir anschließend kurz Mehrarbeit hatten. Wir mussten das Bett des Toten von Grund auf reinigen, unter Umständen auch einen Rollstuhl. Aber anschließend hatten wir – so lange das Zimmer nicht neu belegt wurde – um quasi 1% weniger Arbeit.

An unserem dritten Diensttag verstarb Frau Hirlanda. Es ist sehr schade um diesen Vornamen, meinte Robert. Es gab eine ziemliche Sauerei im Zimmer. Der Notarzt hatte alles versucht, es war eine blutige Angelegenheit. Nachdem Frau Hirlanda verstorben war, wurde sie in den Keller geschoben, dort gibt es ein Totenzimmer. Sie würde es nun besser haben, waren Robert und ich überzeugt.

Und dann folgte die letzte Übersiedelung auf den Friedhof.

In diesem Februar war es viel zu heiß, es gab extreme Temperaturschwankungen. An einigen Tagen hatte es 22 Grad. Nicht nur mein Kreislauf spielte verrückt, für einige Bewohner war das tödlich. In zehn Tagen verstarben gleich sechs Bewohner, was ungewöhnlich viel war.

Bei den Verstorbenen war eine Frau dabei, die einmal mit Luis Trenker bergsteigen gegangen ist. Sie wurde 102 Jahre alt.

Der Tod war im Altenheim natürlich allgegenwärtig. Aber das Thema wurde mit allen Mitteln verdrängt. Je näher einige Bewohner dem Tod kamen, desto gläubiger wurden sie. Es konnte doch nicht einfach aus sein, wenn man stirbt. Da muss es doch etwas geben. Und der Himmel ist doch eine sehr tröstliche Vorstellung.

Im Altenheim wohnten drei Pfarrer. Einer war schon völlig schwachsinnig, der hatte sich blöd gesoffen, war Alkoholiker. Ein anderer agierte mehr im Stillen, er war schon etwas gebrechlich. Und der dritte war der Star für die gläubigen Kirchenfrauen. Er war ein ziemlich geschrumpftes Männchen, eigentlich schon mehr breit als groß. Kaum größer als 1 Meter 40, schätzte ich.

Er war geistig und körperlich für sein Alter noch sehr gut beieinander. Und er wurde von den Kirchenfrauen Tag und Nacht hofiert. Sie versuchten es mit allen Mitteln, sich bei ihm einzuschmeicheln. So ein Fanclub hatte für ihn natürlich einige Vorteile, wurde manchmal aber auch lästig, da er doch auch einmal seine Ruhe haben wollte.

Im Altenheim gab es eine kleine Kapelle im ersten Stock, dort wird regelmäßig die heilige Messe zelebriert. Es war für die Kirchenfrauen glasklar, wer in den Himmel kommen würde. Mindestvoraussetzung war, dass man auch wirklich an jeder Messe teilgenommen hatte.

Frau Maria nahm mich einmal zur Seite, um mich vor ihrer Konkurrentin, Frau Anna, zu warnen. „Sie hat das Gebetsbuch in der Hand, aber den Teufel im Sack!“ sagte sie zu mir. Ich solle ja vorsichtig sein. Eine religiöse Intrige jagte bei den beiden die nächste.

Bei der BBC las ich dieser Tage einen Artikel über das wahre Leben von Jesus. Das mit der Kreuzigung wäre reine Propaganda gewesen, behauptete man. In Wirklichkeit konnte Jesus nämlich entkommen. Er floh über Russland und Sibirien in den Norden Japans, nach Aomori. Dort wurde er ein Reisfarmer, heiratete eine Japanerin und starb friedlich im Alter von 114 Jahren.

Herr Sajiro Sawaguchi, 80 Jahre alt, sei ein direkter Nachfahre, wolle aber keine genaueren Auskünfte geben. Ihm gehört das Grundstück mit dem Grab Jesu, das zu einer Touristen Attraktion geworden ist. Der Enkel, Junichiro Sawaguchi, war bereit, der BBC ein Interview zu geben. Er konnte aber keine fachlichen Details mitteilen. Er selbst sei gar kein Christ, sondern Buddhist. Und schließlich wäre die Geschichte doch nur eine alte Legende. In den 1930er Jahren gingen auch noch hebräische Dokumente verloren, die eindeutig bewiesen hätten, dass die Geschichte auch stimme.

Diese neuen Erkenntnisse behielt ich aber für mich, ich wollte einen Glaubenskrieg im Altenheim vermeiden.

Mittags teilte die Sekretärin im Speisesaal die Post an die Bewohner aus. Einmal war es wieder so weit, die Rechnung der Kirchensteuer war in der Post. Im Scherz sagte sie laut im Saal, dass die Leute nur ja schnell die Rechnung einzahlen sollten, damit es auch noch etwas helfen könne.

Stellen Sie sich vor, Sie sterben gerade, und in dem Moment fällt Ihnen ein, dass Sie die letzte Kirchensteuer nicht bezahlt haben…

Es gab mehrere Arten, wie die Bewohner starben. Ein Teil von ihnen war quasi schon tot, es vollzog sich nur mehr der physische Abgang. Ich weiß natürlich, dass man mit so einer Behauptung sehr aufpassen muss. Es gab aber Bewohner, die lagen schon jahrelang regungslos im Bett, konnten nicht mehr sprechen. Die einzige Regung war der Augenaufschlag. Sie konnten nicht mehr selbst essen oder trinken, oder sie wollten es auch gar nicht mehr. Sie wurden mit einer so genannten Magensonde ernährt. Flüssige Nahrung kam per Schlauch direkt in den Bauch. Und sie konnten nicht sterben, weil die moderne Medizin sie nicht lässt.

Für mich persönlich ist das eine der grausamsten Foltermethoden. Wenn man mich jahrelang in einem Bett zwangsernährt liegen lassen würde und mich nicht sterben ließe, nicht auszudenken!

Nur wenige starben friedlich, viele hatten Angst vor dem Tod. Oft dauerte der Todeskampf mehrere Tage, manchmal sogar Wochen.

Herr Karl, ein kleiner Mann ohne Beine im Rollstuhl, sagte zu uns meist montags: „Heute ist ein guter Tag zum Sterben!“ Er war oft betrunken, randalierte, fiel aus seinem Rollstuhl und wurde ruhig gestellt, sediert heißt das in der Fachsprache. Wie er zum Alkohol kam, war uns lange Zeit ein Rätsel.

Das Schlimmste am „System Altenheim“ war für mich die fehlende Perspektive für die Bewohner. Was hat man denn noch zu erwarten? Was – außer sterben – hat man denn noch zu tun? Und gestorben wurde immer.

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